Seiten

"das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar"
"[...] Ich konnte mich nicht mehr halten. Ich klinge furchtbar melodramatisch, ich weiß, und obwohl das Wort so schön klingt, hasse ich das, was es beschreibt. Melodramatik. Schrecklich. Und deshalb entschuldige ich mich jetzt schon mal dafür, dass du dir das anhören musst. Ich wünschte, dieser Brief wäre an mich selbst adressiert, denn dann müsstest du mich nicht hassen, dann könnte ich das weiterhin übernehmen. Ich will nicht, dass du mich hasst. Würde es aber verstehen. 
Aber um zum Punkt zurückzukommen: Ich konnte mich nicht mehr halten. Wie gesagt. Ich habe die Situation gestern gezeichnet. Vielleicht lege ich dir das Bild hier hinzu, aber falls ich mich anders entscheide, beschreibe ich es kurz. Ich hänge an einer Leiter, an der ein Schild mit der Aufschrift "Dein eigener Weg" hängt. Ich versuche die Leiter hinaufzuklettern, will meinen "eigenen Weg" gehen. An der Leiter vorbei gehst du. Nein, nicht nur du, auch alle anderen. Alle in die gleiche Richtung. "Richtung Tod" besagt das Schild an der Seite. Ihr geht nicht auf direktem Wege dorthin, es gibt Kreuzungen, an denen ihr wartet oder abbiegt, Bänke, auf denen ihr Pausen macht, Wälder, in denen ihr euch verlauft. Aber letzten Endes landet ihr alle auf der besagten Straße. Ihr alle strömt in dieselbe Richtung und ich hänge an meiner Leiter. 
So die Ausgangssituation. So sieht das Bild aus. Und was jetzt passiert ist, ist folgendes: Ich wurde mitgerissen. Ich konnte mich nicht mehr halten. Die Menschenmassen haben mich mitgezogen, ich laufe jetzt also mit in eure Richtung. Und zur Zeit bin ich zu schwach, um umzukehren. 
Du weißt, dass ich nicht zeichnen kann. Aber ich brauchte das, um zu verstehen, was passiert ist. Ich trau mich nämlich nicht mehr zu schreiben. Ich schreibe gar nicht mehr. Dieser Brief ist das erste Geschriebene seit Wochen. 
Warum ich nicht mehr schreibe? Wahrscheinlich aus Angst. Weil Texte meine Gefühle und Gedanken visualisieren. Sie werden dunkler und lauter und ich kann mich nicht mehr vor ihnen verstecken. Dabei verbringe ich meine gesamte Zeit damit, mit ihnen verstecken zu spielen.
Aber eins kann ich dir sagen: Zeichnen ist genauso schlimm. 
Sie haben mich gefunden, haben das Spiel gewonnen. [...]"
"Was tun Sie", wurde Herr Keuner gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?"
"Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr Keuner, "und sorge, dass er ihm ähnlich wird." 
"Wer? Der Entwurf?" 
"Nein", sagte Herr Keuner, "Der Mensch."

Bin Herrn Keuner ähnlicher als ich dachte.
"I think it’s time I let you go. And that’s so hard to do because some part of me will be in love with you for the rest of my life. But the daydreaming, the running in place, it’s not healthy. So this is me, cutting the cord. This is me doing what I should have done months ago: saying goodbye."
Für wen du dich hältst und wer du bist sind Welten.
"Das Problem is... ich wurde halt einfach hier geboren. So komplett zufällig. Einfach so. Und plötzlich bin ich älter geworden und musste in den Kindergarten gehen und dann in die Schule. Um dann halt später einen Job zu bekommen. Einen Job, der mir Spaß macht und mit dem ich Geld verdienen kann. Und es gibt dann eben Menschen, die Glück haben. Die finden was, das macht ihnen Spaß und sie verdienen genug Geld um zu überleben. Um zu leben. Aber ich habe kein Glück. Hast du Glück? Ich nämlich nicht. Ich habe keinen Spaß an den Dingen, die ich tun könnte, um Geld zu verdienen. Ich will das nämlich gar nicht. Ich will nicht in dieser Routine gefangen sein. Ich habe keine Lust, jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen und mich irgendwem unterzuordnen. Das tust du, wenn du arbeitest, immer. Auch wenn du selbstständig bist. Das heißt nämlich nur so. Eigentlich bist du gar nicht selbstständig. Du bist ja immer noch auf andere angewiesen, damit du Geld verdienst. Und so bist du automatisch untergeordnet. Oder zumindest an sie gebunden. Und das will ich nicht. Ich mein, wenn es stimmt, was alle sagen, und man wirklich nur einmal lebt, dann will ich mein Leben leben. Für mich. Nicht für irgendjemand anderen. Und wenn ich heute etwas will, dann will ich das morgen ja gar nicht mehr unbedingt. Aber in dieser Gesellschaft musst du das, was du heute gemacht hast, auch morgen machen. Routine. Wie gesagt. Du bist gefangen. Ich möchte nicht gefangen sein. Ich will leben und frei sein und im Moment ist für mich das Wichtigste, rauszufinden, wie ich ausreißen kann aus dieser Gefangenschaft."

In einsamen Nächten schmiede ich die besten Pläne. Ich erschaffe wunderbare Traumweltseifenblasen, die erst mit dem Weckerklingeln am nächsten Morgen wieder zerplatzen. Was dann aber bleibt, sind Servietten mit süßen Eulenmotiven voller roter Flecken, Teer in der Lunge und Kopfschmerzen. Aber das ist egal. Ich habe die ganze Zeit  über gelächelt.